Erlernte Hilflosigkeit
Ein Hund springt in Anwesenheit anderer Hunde in die Leine, knurrt, bellt und fletscht die Zähne - so sieht oft der Beginn einer typischen TV-Hundetrainings-Serie aus. Die Besitzer hängen dabei völlig hilflos und überfordert am anderen Ende der Leine. Jeder Spaziergang gleicht einem Spießrutenlauf.
Gut, dass der Trainer eine schnelle Lösung für das Problem parat hat: er nimmt den Hund an die Leine und geht aufrecht und stolz am Nachbarshund vorbei. Jegliches Anzeichen von „ausflippen“ wird mit einem Ruck an einem Würge-/Ketten-/Stachelhalsband, einer „Berührung“ in die Seite (eher im amerikanischen Raum) oder mit Wasserspritzern oder einer Rütteldose (eher im deutschsprachigen Raum) quittiert. Muckt Bello dann immer noch auf, wird er z.B. mittels Alpharolle unterworfen und solange am Boden festgehalten, bis er aufgibt und sich seines Schicksals ergibt. Innerhalb kürzester Zeit hat der Trainer einen Hund an der Leine, der „ruhig“ am anderen Hund vorbei geht. Einfach so. Problem gelöst! Der Hund ist entspannt, macht keinen Mucks mehr und alle sind glücklich!
Oder etwa doch nicht? Kann sich ein Problem, das oft schon über Jahre hinweg besteht, „einfach so“ in Luft auflösen? Nein! Das Problem ist immer noch da! Man hat dem Hund lediglich die Möglichkeit genommen, es zu äußern. Cesar Millan bezeichnet diesen Zustand als „calm, submissive“ (ruhig, unterwürfig) oder als „relaxed state of mind“ (entspannter Gemütszustand). In Wirklichkeit sind diese Hunde alles andere als ruhig und entspannt! Sie befinden sich im Zustand der „erlernten Hilflosigkeit“. Der Hund hat gemerkt, dass es völlig egal ist, was er macht, es wird ihm die Möglichkeit genommen, mit seinem Verhalten die Umwelt zu beeinflussen, er erlebt einen völligen Kontrollverlust, wird passiv und tut einfach gar nichts mehr. Kontrolle über die eigene Lebenswelt zu haben ist eines von 4 psychischen Grundbedürfnissen (Grundbedürfnismodell nach Klaus Grawe), werden diese Grundbedürfnisse nicht erfüllt kommt es zu Ängsten, Zwangsstörungen, Depressionen, etc. Definitiv kein wünschenswerter Zustand!
Stellt euch vor, ihr habt Höhenangst und man sperrt euch auf das Dach eines Turmes, ohne Geländer, ohne die Möglichkeit euch ins sichere Innere zu retten, egal, was ihr tut. Zu Beginn versucht man noch, die Tür aufzubrechen, zu schreien, etc. - bis ihr alles erdenklich Mögliche ausprobiert habt, irgendwann werdet ihr euch eurem Schicksal ergeben, völlig in euch zusammenfallen und einfach nichts mehr tun. Geht es euch dabei gut? Würdet ihr diesen Zustand euren Mitmenschen wünschen?
Genau so geht es aber dem Hund, der eigentlich aus Unsicherheit an der Leine „ausflippt“. Er sieht den anderen Hund, weiß aber, dass ihm schlimme Konsequenzen drohen, wenn er jetzt einen „Mucks“ macht und ergibt sich still seinem Stress. Zusätzlich zu den psychischen Problemen, die wir damit heraufbeschwören, kommt es in diesen Situationen, zu einer erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Dieses Stresshormon verursacht viele körperliche Beschwerden wie Durchfall, Futtermittel-Unverträglichkeiten, Organschäden etc. Darüber hinaus beeinträchtigt es auch die Lernfähigkeit des Hundes stark. Dies ist aus lerntheoretischer Sicht der wichtigste Punkt: der Hund KANN in den meisten Situationen, die im Fernsehen dargestellt werden, gar nicht mehr effektiv lernen, weil er viel zu viel Stress hat. Ist der Hund längerfristig diesem Stress ausgesetzt, schlittert man schnell in einen Teufelskreis! Das Problem wird damit immer schlimmer und schwerer zu beheben.
Seid euch dessen bewusst, dass „brav“ nicht gleich „brav“ ist - ein Hund, der in die erlernte Hilflosigkeit gefallen ist, ist gebrochen! Nach außen hin vielleicht ein unauffälliger Begleiter, aber ethisch ist dieser Zustand nicht vertretbar!
- Aurelia
psychologische Grundbedürfnisse nach Klaus Grawe:https://de.wikipedia.org/wiki/Grundbedürfnis#Psychologie
Experiment zur erlernten Hilflosigkeit von Martin Seligman:https://de.wikipedia.org/wiki/Erlernte_Hilflosigkeit…
Beispiel zur „erlernten Hilflosigkeit“ ab Min. 06:25 (wenn man sich das Video ohne Ton ansieht, kann man sich besser auf die Körpersprache des Hundes und des „Trainers“ konzentrieren):https://www.youtube.com/watch?v=vPiaQMfm8SU